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Zitronen

Roman | Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom | Valerie Fritsch

E-Book
2024 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
186 Seiten
ISBN: 978-3-518-77863-0

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Kurztext / Annotation

August Drach wächst in einem Haus am Dorfrand auf, das Hölle und Paradies zugleich ist. Der Vater, von sich und dem Leben enttäuscht, misshandelt seinen Sohn, Zärtlichkeit hat er nur für die Hunde übrig. Trost findet August bei seiner Mutter, die ihn liebevoll umsorgt. Doch als der Vater die Familie verlässt, verwandelt sich die Zuwendung der Mutter: Sie mischt August heimlich Medikamente ins Essen, schwächt das Kind, macht es krank; von seiner Pflege verspricht sie sich Aufmerksamkeit und Bewunderung. Erst Jahre später gelingt es August, sich aus den Fängen der Mutter zu befreien, ein unabhängiges Leben zu führen, erste Liebe zu erfahren. Doch wie lernt ein erwachsener Mensch, das Rätsel einer Kindheit zu lösen, in der Grausamkeit und Liebe untrennbar zusammengehören? Wie durchbricht er den Kreislauf von Lügen und Betrügen? Und was passiert, wenn sich dieser Mensch, Jahre später, an den Ursprung des Schmerzes zurückwagt?

Sprachgewaltig, in packenden Bildern und Episoden erzählt Valerie Fritsch in ihrem neuen Roman von der Ungeheuerlichkeit einer Liebe, die hilflos und schwach macht, die den anderen in mentaler und körperlicher Abhängigkeit hält. Ein Entkommen ist nicht vorgesehen, es sei denn um den Preis, selbst schuldig zu werden.



Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

I

Es war eine kühle, grüne Gegend. Immer roch es nach Regen, auch wenn er selten fiel. Kam in den Tälern der Frühling, wurde die ausgezehrte, magere Welt des Winters wieder groß und bewohnbar, aber wer hinauf zu den Bergspitzen sah, konnte noch im Sommer frieren. Die Katzen jagten auf den Wiesen, saßen im wachsenden Gras und warteten auf die Mäuse wie ein schöner Tod im Sonnenschein. Das Dorf war so klein, dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal den unter seinem eigenen Dach. Den Kindern erzählten die Alten, auf der Straße müsse man alle Männer grüßen, weil man nie wissen könne, wer der Vater sei. Überall gab es Geschichten, hinter denen man rasch die Tür zuzog. Hinter der einen Tür wartete eine Familie seit Jahren auf ein Mädchen, das verschwunden war, und zuckte Mal um Mal zusammen, wenn auf der Straße ein fremdes Kind im blauen Kleid vorüberging, hinter der anderen lebte ein Mann im Werkzeugkeller, nachdem seine Frau einen Liebhaber ins Haus geholt hatte. Es gab Häuser mit immer geschlossenen Fenstern, die man nur öffnete, wenn jemand starb, damit die Seele entweichen konnte, und so reichte den Bewohnern des Dorfes ein Blick von der Straße, um zu wissen, wann der Tod Ein- und Auszug in diesen Zimmern hielt. Das aufgerissene Fenster war sein letztes Zeichen, bei dem die Frauen schon nach Salz und Zucker griffen und zu backen begannen, um bald einen warmen Kuchen als Zeugnis ihres Beileids auf den Treppenabsatz zu stellen.

Die Drachs lebten am Rande des Ortes, gerade so abgelegen, dass man keinen Menschen sah, aber ging man nur um die richtige Ecke, schon mit einem Bein im Vorraum eines Nachbarn stand. Das Haus, das Lilly Drach nach dem frühen Tod ihrer Eltern geerbt hatte, war auf eigenwillige Art und Weise schön, aber unfertig und schmutzig. Zu Reparaturen und Neuerungen fehlten die Mittel, das Geld war so knapp, dass man darüber gar nicht erst sprach, aber gleich losschrie, konnte man eine Unterhaltung darüber nicht vermeiden. Sah man genau hin, war es schief, verzogen vom Wind, als hätte es sich in einem großen Sturm baumgleich ein paar Zentimeter gebeugt und nie wieder in seinen aufrechten Stand zurückgefunden. Wie ein Puppenhaus schien es mit seiner hölzernen Veranda und dem filigranen Treppenaufgang, die Formen zu feingliedrig für die raue Gegend und das Dorf. Ein großer Sonnenschirm blühte im Sommer neben dem Eingang und schlief im Winter dünn um sich selbst gewickelt wie ein Wächter an den Stufen.

Kaum trat man durch die Tür, roch es nach altem Stoff, Parfum und Staub. Der Schiffsplankenboden knarrte nur unter manchen Schritten, und es war wie ein Lauf über ein rätselhaftes Klavier, dessen Bretter wie hölzerne Tasten mal anschlugen und mal schwiegen, wenn August mit bloßen Füßen durch die Räume rannte, so wild, dass hin und wieder Speile in seinen Sohlen zurückblieben, die die Mutter mit einer Nähnadel und einer Brille auf der Nase herausoperierte. Das Haus war eine billige Wunderkammer voll Ramsch, aber ohne Schätze, mit dem der Vater mehr schlecht als recht handelte. Wochenends fuhr er auf Flohmärkte, lud den Kastenwagen voll und kam mit fast ebenso vielen Dingen wieder, mitunter waren es mehr, wenn er etwas entdeckt hatte, von dem er glaubte, es woanders teurer verkaufen zu können.

So vollgestopft war das Haus, dass seine Bewohner kaum Platz hatten in ihm, bis in die letzte Ecke ausgefüllt mit Flohmarktware, Kuriositäten, die man gefunden, und Erbstücken, denen man nicht geschafft hatte zu entkommen. Manche Möbel waren wie Gespenster, die einen Blick in die vergangene Welt freigaben: der dicke Polsterstuhl, auf dessen abgeriebenen Lehnen man unwillkürlich die schweren Unterarme der Vorbesitzerin sah, die geblümte Plastiktischdecke am Küchentisch, durch deren Brandloch man den kleinen Finger steckte und meinte noch die Glut der Zigarette zu fühlen. Um den langen Tis