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Sontag

Die Biografie | Benjamin Moser

E-Book
2020 Penguin Verlag
928 Seiten; mit insgesamt 32-seitigem Bildteil
ISBN: 978-3-641-16565-9

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€ 16,99

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Kurztext / Annotation
Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis als beste Biografie
Susan Sontags glamouröse Erscheinung ist so legendär wie ihr schneidender Verstand. Das Themenspektrum, das sie in ihrem beeindruckenden literarischen Werk bearbeitete, reicht von postabstrakter Malerei über Pornografie und Existenzialismus bis hin zu Krebs und Kriegsfotografie. Für seine monumentale Biografie dieser Literaturikone des 20. Jahrhunderts konnte Benjamin Moser zahlreiche private Aufzeichnungen auswerten und erstmals Lebensgefährten wie Annie Leibovitz befragen. Sein tiefgründiges, intimes Porträt vermisst das Leben und den geistigen Kosmos dieser Maßstäbe setzenden Intellektuellen.

Mit 32-seitigem Bildteil.

Benjamin Moser, geboren 1976 in Houston/Texas, lebt in den Niederlanden, wo er an der Universität Utrecht promovierte. Er verfasst regelmäßig Beiträge für Harper's Magazine und The New York Review of Books und ist mit einer großen Biographie von Clarice Lispector hervorgetreten. Er ist außerdem Herausgeber ihrer Werkausgabe in neuer Übersetzung bei dem amerikanischen Verlag New Directions. Für seine Biographie von Susan Sontag gewann er 2020 den Pulitzer-Preis.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Kapitel 1

Die Königin der Leugnung

Bis zu ihrem Tod bewahrte Susan Sontag zwei Amateurfilme auf, die mit einer so alten Technik aufgenommen waren, dass sie sie nie abspielen konnte. Sie hielt diese Talismane in Ehren, weil sie die einzigen bewegten Bilder waren, auf denen ihre Eltern zusammen zu sehen waren: in ihrer Jugend, als sie zu einem abenteuerlichen Leben aufbrachen.30

Das flackernde Bildmaterial zeigt das alte Peking: Pagoden und Läden, Rikschas und Kamele, Fahrräder und Straßenbahnen. Ganz kurz sieht man eine Gruppe Europäer, die durch einen Stacheldrahtzaun von einer Ansammlung neugieriger Chinesen getrennt sind. Und dann, ein paar Sekunden lang, erscheint Mildred Rosenblatt und ist ihrer Tochter so ähnlich, dass man versteht, warum die beiden später für Schwestern gehalten wurden. Auch ihr gut aussehender Ehemann Jack taucht sekundenlang auf, so schlecht belichtet, dass kaum mehr von ihm zu erkennen ist als der Kontrast, den er - groß, weiß, in ausländischer Kleidung - zu den chinesischen Schaulustigen bildet.

Der Film entstand um 1926, als Mildred zwanzig war. Etwa fünf Jahre später wurde der zweite gedreht. Er beginnt in einem Zug in Europa und verlagert sich dann auf das Oberdeck eines Schiffs. Dort amüsiert sich eine Gruppe lachender Passagiere - Jack und Mildred und ein weiteres Paar - damit, einen Ring über ein Netz zu werfen. Mildred trägt ein weißes Sommerkleid und eine Baskenmütze, lächelt strahlend und spricht mit der unbekannten Person hinter der Kamera. Dann spielt man Shuffleboard, und etwa zur Hälfte des Films taucht Jack auf, dünn und schlaksig, in einem Dreiteiler und ebenfalls eine Baskenmütze auf dem Kopf. Der andere Mann und er liefern sich einen leidenschaftlichen Wettkampf, während ihre Freunde anfangen, Grimassen zu schneiden und im Spaß miteinander zu raufen. Mildred lehnt in der Tür und biegt sich vor Lachen. Alles in allem dauern die Filme knapp sechs Minuten.

Mildred Jacobson wurde am 25. März 1906 in Newark geboren. Obwohl ihre Eltern Sarah Leah und Charles Jacobson im russisch besetzten Polen geboren wurden, erreichten beide noch im Kindesalter die Vereinigten Staaten: Sarah Leah 1894, mit sieben, und Charles im Jahr zuvor, mit neun. Beide Eltern von Mildred sprachen akzentfreies Englisch, was für Juden in dieser Epoche der Masseneinwanderung ungewöhnlich war. Und - noch ungewöhnlicher für die meisten europäisch geprägten Schriftsteller ihrer Generation - ihre Enkeltochter war wahrscheinlich die einzige bedeutende jüdische Autorin dieser Generation, die keine persönliche Verbindung nach Europa hatte, keine Erfahrungen im Einwanderermilieu, das so viele ihrer literarischen Zeitgenossen charakterisierte.

Obwohl in New Jersey geboren, wuchs Mildred auf der anderen Seite des Kontinents, in Kalifornien, auf. Als die Jacobsons nach Boyle Heights zogen, einem jüdischen Viertel östlich von Downtown, war Los Angeles ein Ort, der im Begriff war, eine Großstadt zu werden. Der erste Hollywoodfilm entstand 1911, ungefähr zu der Zeit, als die Jacobsons eintrafen. Acht Jahre später, als Mildred und Sarah Leah in Auktion der Seelen auftraten, hatte sich bereits Großindustrie in der Stadt angesiedelt. Die entstehende Filmkolonie zog Abschaum an: Mit Vorliebe erzählte Mildred den Leuten, sie sei mit dem berüchtigten Gangster Mickey Cohen zur Schule gegangen, einer der Größen der Prohibitionszeit in Las Vegas.31 Und Glamour wurde von der Filmindustrie angezogen und ausgestrahlt: Mildred wirkte auf die Leute stets schön, eitel und mondän auf Hollywood-Art. Susan hat sie einmal mit Joan Crawford verglichen; andere sahen eher in Susan das Ebenbild der Diva.32

»Stets war sie perfekt zurechtgemacht«, erzählte Paul Brown, der Mildred aus Honolulu kannte. In der Stadt der Hippies und Surfer, in der sie ihre letzten Jahr