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»Ich habe Wut und Hass besiegt«

Was mich Auschwitz über den Wert der Liebe gelehrt hat | Rachel Hanan; Thilo Komma-Pöllath

E-Book
2023 Heyne Verlag
288 Seiten; inkl. Fotos
ISBN: 978-3-641-30114-9

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Kurztext / Annotation
Ein Jahr. Im Konzentrationslager ist das eine lange Zeit, eine Zeit, die ein Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt. Rachel Hanan war 15, als sie ins Konzentrationslager verschleppt wurde, sie überlebte Auschwitz, Bergen-Belsen, Duderstadt und Theresienstadt, bei ihrer Befreiung war sie 16. Sie hat aus diesem Jahr Albträume und dunkle Gedanken mitgenommen, aber auch die Erkenntnis, dass Liebe einen Menschen am Leben erhalten kann. So wie sie und ihre drei Schwestern sich im Lager angesichts unvorstellbarer Härten gegenseitig am Leben erhielten. Rachel macht es sich bis heute zur Aufgabe, diese rettende Liebe an andere Menschen weiterzugeben. Und sie kämpfte in ihrem zweiten Leben darum, wieder glücklich zu sein - mit Erfolg, sagt sie im Alter von 93 Jahren. Dies ist die bewegende Botschaft einer starken Frau, die sich bewusst für die helle Seite des Lebens entschieden hat.

Rachel Hanan, geboren 1929, überlebte als Teenager vier Konzentrationslager, das Bombardement ihres Gefangenentransports, den Todesmarsch, bevor sie nach einem Jahr Martyrium am 9. Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde. 1947 wanderte Rachel nach Israel, das damals noch Palästina hieß, aus, heiratete zwei Jahre später und bekam zwei Söhne. Über 30 Jahre arbeitete sie als Sozialarbeiterin an sozialen Brennpunkten in ihrer Heimatstadt Haifa, später leitete sie dort einen großen Wohlfahrtsverband.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1
ALBTRAUM

Ich habe fast 50 Jahre nicht darüber gesprochen. Die Welt aber hat seitdem nicht aufgehört darüber zu sprechen. Bis heute nicht, dabei ist es 80 Jahre her. Das, was ich persönlich erlebt habe, hat die Welt erschüttert wie kaum ein anderes historisches Ereignis davor und danach. Vermutlich liegt es daran, dass die Welt, oder sagen wir besser, der Mensch, wir alle also bis heute nicht begreifen können, wie es dazu kommen konnte, wieso es überhaupt passiert ist, warum niemand es verhindert hat. Seit es passiert ist, sind sich die Menschen selbst ein Stück weit ein Rätsel. Verunsichert im eigenen Selbstverständnis fragen sie sich: Wer sind wir, wenn wir zu so etwas fähig sind? Jeder Einzelne von uns? Fast scheint es, als hätte der Mensch seitdem den tiefen Glauben an sich selbst verloren, daran, dass im Grunde seiner Existenz etwas Gutes liegt. Ich selbst weiß, zu was die Menschen fähig sind, ich habe es an Leib und Seele erfahren. Letzte Antworten auf die Fragen nach dem Warum, nach dem Wie und dem Wieso habe auch ich nicht finden können. Vielleicht habe ich auch deshalb so lange geschwiegen. 80 Jahre danach versuchen wir uns noch immer eine realistische Vorstellung von jenen Geschehnissen zu machen, Geschehnissen, die sich der Vorstellungskraft entziehen. Nicht meiner, die ich dabei war, womöglich aber Ihrer. Es reicht ein einziger Begriff, nur ein Wort, und die Menschen zucken innerlich zusammen. Zumindest die allermeisten von ihnen. Und ich sage ganz ausdrücklich, zum Glück ist das so. Zum Glück hält die Erschütterung auch 80 Jahre danach immer noch an. Egal wo auf der Welt, egal ob man den Begriff nur aus dem Geschichtsunterricht kennt. Diesen Begriff, der Angst macht, der verunsichert und verstört, bis heute, jeden von uns. Warum ist das so? Ein einziger Begriff und Politik, Wissenschaft und Welt gedenken, ermahnen, forschen, beten und rätseln und versuchen immer noch Erklärungen zu finden für das Unerklärliche. Das Unerklärliche, das einen Namen trägt: Auschwitz.

Ich war ein Teenager, noch ein halbes Kind, als ich an meinem 15. Geburtstag in Auschwitz ankam. Ziemlich genau ein Jahr später, eine Woche vor meinem 16. Geburtstag, wurde ich im Konzentrationslager Theresienstadt aus der Gefangenschaft der Nationalsozialisten befreit. Heute bin ich weit über 90 Jahre alt, ich bin das, was man eine »Überlebende« nennt. Ich habe Vater und Mutter in Auschwitz verloren, Brüder, Schwester, Nichte, Cousinen, Großeltern. Von unserer über 200 Mitglieder großen Familiensippe haben nur wenige überlebt. Aber nur zu überleben, das hätte mir im Leben danach nicht gereicht. Als ich endlich anfing über meine Vergangenheit zu sprechen, 50 Jahre später, war der größte Teil meines Lebens selbst schon wieder Geschichte. Ich stand kurz vor dem Ruhestand. Man kann nicht ein ganzes Leben darüber schweigen, nicht über Auschwitz. Heute will ich meine Geschichte in allen mir erinnerbaren, in allen gefühlten Einzelheiten erzählen. Zum allerersten Mal wird sie schriftlich festgehalten, meine Geschichte, die mein Leben ist.

Zeit meines Lebens, also des Lebens nach der Befreiung aus der Lagerhaft, habe ich trotz meiner Schreckenserfahrung erstaunlich gut funktioniert. Ich war Sozialarbeiterin in großen Wohlfahrtsämtern in Israel, später Managerin einer kommunalen Wohlfahrtsbehörde. Ich hatte eine berufliche Aufgabe gefunden, die mir Sinn gab, die mich erfüllte, auch zeitlich ausfüllte. Das war wichtig. Von außen betrachtet war es so: Wer von nichts wusste, der hat auch nichts gemerkt. Es soll nicht großspurig klingen, ich durfte mit vielen großartigen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten, der Erfolg unseres Engagements war nur als Team denkbar. Doch ich nehme für mich in Anspruch, eine gute Sozialarbeiterin gewesen zu sein. Engagiert, empathisch, das Herz am rechten Fleck. Diesen Fleck konnte auch Auschwitz nicht verrücken. Von dem aber, was