Buchhandlung Herder

Suche

Die Soziologie vor der GeschichteOverlay E-Book Reader

Die Soziologie vor der Geschichte

Zur Kritik der Sozialtheorie | Wolfgang Knöbl

E-Book
2022 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
316 Seiten
ISBN: 978-3-518-77282-9

Rezension verfassen

€ 21,99

in den Warenkorb
  • EPUB sofort downloaden
    Downloads sind nur in Österreich möglich!
  • Als Taschenbuch erhältlich
Kurztext / Annotation

Der Zugriff der Soziologie auf die Geschichte erfolgte von Anfang an über die Prägung robuster Prozessbegriffe wie etwa »Differenzierung« oder »Individualisierung«, die in Zeitdiagnosen bis heute eine zentrale Rolle spielen. Thematisiert wurde dabei jedoch selten, welchen geschichtsphilosophischen Ballast diese Begriffe mit sich führen, weshalb in jüngster Zeit einige von ihnen stark kritisiert worden sind. Wolfgang Knöbl analysiert, wie in verschiedenen Phasen der Disziplingeschichte - zumeist erfolglos - versucht wurde, historische Prozesse zu theoretisieren, und arbeitet heraus, welche erzähltheoretischen Einsichten die Soziologie aufzunehmen hat, wenn ihre Diagnosen ernst genommen werden wollen.



Wolfgang Knöbl ist Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

91. Einleitung

Großflächige, robuste Prozessbegriffe sind in den letzten Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften zunehmend unter Druck geraten, auch wenn die Kritik an ihnen selbstverständlich nicht von allen geteilt wird. Unverkennbar ist freilich, dass solche irgendwie universalgeschichtlich zu nennenden Termini wie »Rationalisierung«, »Differenzierung« oder »Modernisierung« schon aufgrund ihrer Bedeutungsvielfalt und aufgrund der mit ihnen verbundenen, oft unklaren normativen Implikationen nicht mehr restlos zu überzeugen vermögen. Aber auch weniger umfassende Prozessbegriffe (hier wären etwa »Individualisierung«, »Bürokratisierung« oder »Säkularisierung« zu nennen) haben an Plausibilität verloren, weil zum einen Globalhistorikerinnen oder Ethnologen auf »nichtwestliche« Phänomene aufmerksam gemacht haben, die mit diesen Begriffen nicht sinnvoll zu fassen sind, und weil zum anderen selbst im sogenannten Westen die soziale Wirklichkeit sehr viel komplizierter und gebrochener ist, als dies begrifflich solchermaßen eingefangen werden könnte.[1] 

Die eben genannte normative und empirische Kritik an soziologischen Prozessbegriffen ging und geht einher mit wissenschaftstheoretischen Zweifeln, bleibt doch oft einigermaßen unklar, was denn genau unter einem »Prozess« zu verstehen sei. Jedenfalls scheint darüber ganz aktuell - und dies wird unter anderem im vorliegenden Buch zu besprechen sein - eine Debatte zu beginnen, die vor einigen Jahren in einer ganz ähnlichen Weise in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen um den Ereignisbegriff[2]  geführt wurde. Denn der damals gestellten Frage »Was ist ein Ereignis?« kann man ja zwanglos eine weitere hinzufügen: »Was ist ein Prozess?«,[3]  weil Prozesse ja eben Ereignisse verketten.

10Zugegebenermaßen wurden in der Soziologie bereits in den 1980er Jahren »absurde Prozesse«, »eigendynamische soziale Prozesse« oder »Gewaltprozesse«[4]  theoretisiert. Aus heutiger Perspektive wird man freilich festhalten können, dass die Debatte, obwohl ab und an aufgegriffen, seither zumindest in Deutschland nicht recht vorangekommen ist. Dies lag zum Teil auch daran, dass in jener schon länger zurückliegenden Auseinandersetzung mit Prozessen letztlich unklar geblieben war, wie verbreitet derartig spezielle Prozessphänomene in der sozialen Realität tatsächlich sind und ob sie somit überhaupt als Ausgangspunkt für die Konstruktion allgemeinerer Wandlungsmodelle dienen können.

Und demzufolge hat man sich dann in der Disziplin mit der Situation insofern arrangiert, als man zwar nach wie vor großflächige Prozessbegriffe verwendet, deren Plausibilität und Tragfähigkeit aber in der Regel nicht hinterfragt oder auch nicht hinterfragen will. Man ist sich allenfalls einig, dass die mit »Individualisierung«, »Bürokratisierung«, »Säkularisierung« etc. bezeichneten Wandlungsformen wohl in den meisten Fällen nicht »eigendynamisch« sein dürften und dass man diesbezüglich auch keine vorschnellen Linearitätsannahmen machen sollte. Aber darüber hinausgehende theoretische Fragen wie etwa danach, von welcher »Prozesshaftigkeit« bei all diesen oft umstandslos verwendeten Prozessbegriffen die Rede ist, ob es also sinnvoll ist, mit Blick auf die diesbezüglich adressierten Wandlungsformen von einem Prozess zu reden, werden eher verdrängt. Dabei sollten sie aber doch für die Sozialwissenschaften absolut zentral sein! Falls die Skepsis gegenüber der Angemessenheit großflächiger Prozessbegriffe nämlich nur halbwegs berechtigt ist, dann stellt sich ja sofort die weitere Frage, ob in den Sozialwissenschaften überhaupt alternative Begrifflichkeiten und Ideen bereitstünden, um strukturierten historischen Wandel zu beschreiben.

11