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Heuristiken des politischen Entscheidens

Karl-Rudolf Korte; Gert Scobel; Taylan Yildiz

E-Book
2022 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
404 Seiten
ISBN: 978-3-518-77008-5

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Kurztext / Annotation

Wo individuelle Nutzenkalküle und geteilte Erwartungen enden, beginnt das Terrain der Kunstfertigkeit. Unter der Annahme, dass politisches Entscheiden als pragmatischer Problemlösungs- und Abwägungsprozess zu betrachten ist, rollen die Beiträge dieses interdisziplinär angelegten Bandes die Frage neu auf, wie in der Politik unter Bedingungen begrenzter Rationalität Handlungsalternativen entworfen, verhandelt und ausgewählt werden. Die Pandemie hat diesem Anliegen eine ungeahnte Dramatik verliehen, eingeübte Grundsätze, Entscheidungsarenen und Praktiken der Politik stehen mehr denn je zur Disposition. Es ist an der Zeit, diese neu zu vermessen.



Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt »Politisches System der BRD und moderne Staatstheorien« an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance. Gert Scobel ist Wissenschaftsjournalist, Autor und Honorarprofessor für Philosophie und Interdisziplinarität. Taylan Yildiz ist Forschungskoordinator am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), Standort Frankfurt am Main.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

7Karl-Rudolf Korte, Gert Scobel und Taylan Yildiz

Politisches Entscheiden: Zwischen Komplexität, Kontingenz und Kunstfertigkeit

Müsste sich die Politikwissenschaft auf das Elementarteilchen ihres Gegenstandsbereiches einigen, hätte der Begriff des Entscheidens beste Erfolgsaussichten. Seine Hauptkonkurrenten - Tugend, Macht, Herrschaft oder Ordnung etwa - wären damit verdrängt. Tatsächlich scheinen sich die Lehrbücher weitgehend einig zu sein, dass Politik die Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen meint. Dieser Siegeszug verdankt sich einer verbreiteten Erfahrung: politische Karrierechancen steigen dort, wo das Herstellen und Durchsetzen von Entscheidungen kompetent ausgeführt wird. Wer schwierige Interessenlagen strategisch austarieren kann und imstande ist, sich mit Argumenten und Narrativen in Stellung zu bringen, die einer deliberativen Prüfung standhalten können, erfüllt zentrale Voraussetzungen der Berufspolitik. Insofern ist die Definition empirisch robust. Gleichzeitig verfügt sie aber auch über eine besondere analytische Anziehungskraft. Das Entscheiden ist schließlich kein Selbstzweck, an dem sich allein die Professionskalküle politischer Subjekte ausrichten. Es ist zugleich eine systemische Notwendigkeit, weil jede Gesellschaft einen Ort benötigt, an dem darüber befunden werden kann, wie Kollektivgüter zu verteilen sind und welche Spielregeln dabei zur Geltung kommen sollen. Das Entscheiden setzt also das Vorhandensein von Entscheidungsmodalitäten voraus, die anders als die Akte des Entscheidens einzener Akteure auf der Ebene von Systemeigenschaften operieren.

Diese kurze Betrachtung der Gründe, die für die Bedeutung des Begriffs der Entscheidung sprechen, lässt den Siegeszug der Definition schon halbwegs plausibel werden. Sie führt indes in eine doppelte theoretische Verlegenheit. Denn einerseits ist gar nicht so klar, was Entscheidungshandlungen im Kern auszeichnet, was sie motiviert und Akteure in die Lage versetzt, intersubjektiv geteilte Übereinkünfte zu erzeugen. Es gibt zwar Modelle, aber diese können weder mit den kognitiven Bedingungen des Entscheidens 8noch mit der Komplexität der Entscheidungskontexte Schritt halten. Tatsächlich sind politische Entscheidungen häufig Ausdruck laufender Prozesse. Brüche und Bifurkationen sind in der Kette der Entscheidungshandlungen - von der Klärung der Fakten über die Bestimmung der Ziele über Urteile und Entscheidungen bis hin zur Umsetzung - unvermeidliche und typische Erscheinungen, die nur schwer in Modellen zu berücksichtigen sind. Was sie vorgeben, kann in Wirklichkeit eingehalten, verändert, gebrochen, ignoriert, verraten oder schlicht anders interpretiert werden. Das macht die Sache schwierig, unberechenbar und vor allem komplex.

Andererseits geht der Systembegriff, sosehr er in diese Verlegenheit einspringen kann, meist mit einer problematischen Vorstellung von Politikabläufen einher. Er suggeriert - in einer meist einfachen Verwendungsweise - eine epistemische Sicherheit, als ob die elementaren Bauteile der Politik bereits erkannt wären und ihr Ineinandergreifen weder kontingent noch komplex wäre. Politik erscheint dann, und nur dann, als etwas Notwendiges - als ein organisches oder gesetzmäßiges Geschehen, in dem sich das Entscheiden letztlich auf dieselbe berechenbare Weise um Ursachen und Wirkungen dreht, wie Planeten um Sonnen kreisen. Diese aus der Himmelsmechanik entlehnte Vorstellung lässt allerdings außer Acht, dass der Traum von einer restlos in kausalen Kategorien bestimmbaren Wirklichkeit scheitert, wenn er es mit systematischer Ungewissheit, mit unberechenbarer Kontingenz, vielfachen Rückkopplungen zwischen unterschiedlichen Systemen und einem durch mehr Daten nicht abzuschaffenden Nichtwissen zu tun bekommt. Nur sc