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Nostalgie

Wann sind wir wirklich zuhause? | Barbara Cassin

E-Book
2021 Suhrkamp Verlag
Auflage: 1. Auflage
150 Seiten
ISBN: 978-3-518-76975-1

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Kurztext / Annotation

Warum fühlen wir uns manchmal wie Fremde, auch wenn wir zuhause sind? Und warum, so fragt sich Barbara Cassin, empfinde ich umgekehrt Nostalgie, wenn ich an Korsika denke, obwohl ich meine Wurzeln nicht dort habe? In ihrem gefeierten Essay erforscht sie dieses starke Gefühl und die universellen Themen von Flucht, Exil und Sehnsucht nach einer Heimat, indem sie zwei Gründungstexte der westlichen Kultur neu liest: Homers Odyssee und Vergils Aeneis. In einer brillanten Analyse des Werks der Exilantin Hannah Arendt zeigt Cassin dann, wie die Sehnsucht nach Heimat angesichts ihrer oft fatalen Folgen neu gedacht werden sollte, nämlich in Begriffen der Sprache statt des Territoriums.



Barbara Cassin, geboren 1947, ist Philosophin, Altphilologin und emeritierte Forschungsdirektorin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris. Sie gilt als eine der renommiertesten Philosophinnen Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt. 2018 wurde sie Mitglied der Académie française, deren Grand prix de philosophie sie bereits 2012 erhalten hat. Mit der Goldmedaille des CNRS wurde ihr 2018 die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Frankreichs verliehen.



Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

11Eine Insel, nicht zuhause zuhause

Man könnte meinen, ich käme nach Hause zurück, aber es ist nicht mein Zuhause. Vielleicht weil ich kein Zuhause habe bzw., genauer gesagt, weil ich dort, wo ich nicht zuhause bin, am stärksten das Gefühl habe, zuhause, so etwas wie zuhause zu sein. Wann sind wir wirklich zuhause?

Ich verlasse das Flugzeug, hole das Auto aus der Garage am Flughafen, man sagt mir, wo der altertümliche weiße Peugeot steht, der immer noch eine Pariser Nummer hat und sich fährt wie ein Lastwagen. Im Sommer nehme ich gerne die Straße an der Lagune, vorbei an Früchten und Gemüsen, dicken Zitronen, Cantaloupe- und Wassermelonen, Aprikosen, es gibt schon Feigen, Ochsenherztomaten, blasslila marmorierte Auberginen, kleine, gedrungene Zucchini. Die Tunnel, Kreisverkehre und Bremsschwellen, dann die Kurven, eine nach der anderen. Sie fahren sich wie von selbst, meine Hände und vielleicht auch das Lenkrad haben sie verinnerlicht, ohne dass ich besonders darauf achten müsste. Neben den Abgasen wehen die Jahreszeiten den Duft der Macchia-Büsche herüber (»dieser Hauch von Kiefer, diese leichte Andeutung von Beifuß__...«, sagt der entflohene Gefangene in Asterix auf Korsika und springt ins Wasser1), den Geruch von Mimosen, Oleander, Feuer, Meer. Ich sehe das Gewerbegebiet wachsen, neue oder restaurierte Häuser, kaum Veränderungen, sobald man die Straße zum Cap erreicht hat. Ich komme nach Hause zurück wie ein Pferd in seinen Stall.

12Eine solche Erfahrung möchte ich zum Ausgangspunkt nehmen: das Gefühl einer ununterdrückbaren Nostalgie in meinem Inneren, das ich jedes Mal empfinde, wenn ich nach Korsika »heimkehre«. Es ist ein starkes Gefühl und insofern merkwürdig, als meine Vorfahren nicht von dieser Insel kommen, ich nicht dort geboren bin und weder als Kind noch als Jugendliche dort gelebt habe. Ich bin keine Korsin, ich wurde in Paris geboren, wo ich wohne und arbeite, ich habe in einem bezaubernden, etwas dunklen Haus mitten in Paris meine Kinder bekommen und aufgezogen, ich spreche das gestochene Französisch einer »pinsoute«, wie die Korsen Frauen vom Festland nennen: Wie kann es sein, dass ich mich dort so zuhause fühle? Wie kommt es, dass Korsika mir so fehlt, wenn ich lange, immer allzu lang, nicht dort bin? »Du kommst, um neue Energie zu tanken«, höre ich häufig, wenn ich im Dorf bin, was für eine merkwürdige Ausdrucksweise: um welche Energieressource handelt es sich, was ist ihre Quelle? Ich bin dort nicht zuhause und trotzdem bin ich zuhause. So wie im Evangelium die Rede von jemandem ist, der »sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht« (1. Korinther 7,31), empfinde ich Korsika »als« mein Zuhause, auch wenn ich dort nicht zuhause bin. Weil ich dort keine Wurzeln habe, fasst die Entwurzelte, die ich bin, die ich gerne bin und die ich zu bleiben hoffe (meine jüdische Mutter stammte über Triest und unter Fremdherrschaft stehende Gebiete aus Ungarn, und die Familie meines Vaters, die ehedem Barbaresken-Korsaren gewesen waren, gehörten zu den Bankiers des Papstes in der 13südfranzösischen Grafschaft Venaissin), es tatsächlich »als« ihr Zuhause auf.

Über Nostalgie wollte ich offenkundig nachdenken bzw. nachsinnen, weil ich Homer liebe, Odysseus, die griechische Sprache, das Mittelmeer. Aber auch, und das ist merkwürdiger, weil ich an Korsika hänge, am Horizont eines Hauses, eines Dorfes und eines Caps auf einer anderen Insel, auf die ich zumindest insofern nicht gehöre, als ich dort nicht geboren wurde. Trotzdem ist »Nostalgie« das Wort, das mir wie selbstverständlich in den Sinn kommt, wenn ich an Korsika denke. Aber genauso wie »Homer« ist »Nostalgie« nicht unbedingt das, wofür man sie hält. Ebenso wenig wie Homer der Dichter ist, der ursprünglich und ganz allein die Ilias und die Odyssee verfasst hat, wie wir sie ken